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LANGVERSION: INTERVIEW MIT FRANK TURNER 2011

Hier lange Version des Interviews mit Frank Turner aus Heft .rcn 152 Oktober...
LANGVERSION: INTERVIEW MIT FRANK TURNER 2011
FRANK TURNER
EIN PUNKROCKER ZUM KUSCHELN


Frank Turner ist ein Phänomen. Der sympathische Brite aus Winchester kommt eigentlich aus der Punkszene und hat mit der Band Million Dead zwei Alben veröffentlicht. Aber richtig bekannt wurde Turner, als er Ende 2005 den Stecker zog und beschloss, als Songwriter mit Akustik-Gitarre durch die Lande zu ziehen. Sein viertes Album „England Keep My Bones“, das er Anfang Juni veröffentlicht hat, ist in England sogar auf Platz 6 in die Charts eingestiegen. Und das, obwohl Frank Turner eigentlich kämpferische Folk-Songs im Stil von Billy Bragg oder Bob Dylan macht. Der Brite hat sich durch permanentes Touren eine riesige Fanbase erspielt, Turner hat in den vergangenen sechs Jahren mehr als 1000 Konzerte absolviert. Wir haben den englischen Songwriter zum Interview getroffen, nachdem seine Heimat durch tagelange gewalttätige Ausschreitungen erschüttert wurde. Häuser wurden geplündert und angezündet, Autos in Brand gesteckt und Menschen auf offener Straße angegriffen. Unter anderem ging im Londoner Stadtteil Enfield eine Lagerhalle der PIAS-Labelgruppe in Rauch auf, die für große Teile der britischen Indie-Labels die Tonträger vertreibt. Betroffen sind unter anderem Labels wie Domino Records, Ninja Tune, Warp oder Rough Trade.

.rcn: Was denkst Du über die Ausschreitungen in den großen Städten Englands – London, Manchester oder Birmingham?

„Ich denke, das war wirklich schlimm und ganz fürchterlich. Ich bin ziemlich angepisst davon, weil viele Freunde und Verwandte von mir attackiert und verletzt wurden. Leute wie Tom Morello (Politaktivist und Gitarrist von Rage Against The Machine, Anm. d. Red.) sagen, das sei ein politisches Statement. Ich halte das für totalen Bullshit! Das macht mich wirklich sauer! Das war einfach eine Gruppe von Leuten, die beschlossen haben, zur gleichen Zeit Arschlöcher zu sein. Dagegen konnte die Polizei nichts machen. Sie haben eine Menge unschuldiger Menschen verletzt, die nichts verbrochen haben. Und was das Schlimmste ist: Ein Warenhaus wurde zerstört, in dem alle Independent Labels von England ihre Tonträger lagerten. Ich habe alle meine Platten verloren. Ich schätze mal, die Hälfte aller britischen Indie-Labels wird jetzt wohl aufgeben müssen. Das ist wirklich ein schwerer Schlag für die Indie-Szene in Großbritannien.“

.rcn: Was waren das für Menschen, die so was machen? Es sollen sogar Frauen und Kinder dabei gewesen sein...

„Natürlich muss man jetzt darüber nachdenken, warum das passiert ist. Viele Leute verherrlichen das alles, indem sie einen tieferen Sinn dahinter vermuten. Aber es gibt keinen. Das war schlicht und einfach Diebstahl und sinnlose Gewalt. Mein Cousin schlief zuhause mit seinen drei Kindern, als jemand mitten in der Nacht einen Brandsatz in seinen Briefkasten gesteckt hat. Scheiß auf diese Typen!“

.rcn: Es gab auch viele Diskussionen über das Verhalten der Polizei. Oft hieß es, die britische Polizei sei zu soft gewesen. Was meinst Du?

„Ehrlich gesagt kann ich das Dilemma der Polizei gut verstehen. Im Vorfeld gab es einige Proteste gegen unverhältnismäßige Gewalt der Polizei. Deshalb haben sie sich wohl eher zurückgehalten, als die Ausschreitungen anfingen. Es gab auch eine Menge Leute, die gesagt haben, lasst uns die Mitschnitte der Überwachungskameras analysieren und die Täter danach festnehmen. Das ist doch Schwachsinn! Es ist ja nicht deren Haus, das gerade zerstört wird. Die erste Pflicht des Staates ist es, seine Bürger zu schützen. Und wenn die Polizei nicht das Eigentum der Bürger vor Brandstiftung schützen kann, weiß ich nicht, wofür sie eigentlich da ist.“

.rcn: Glaubst Du, die Ausschreitungen sind ein Problem, das nur England betrifft? Es gab ja auch schon ähnliche Vorfälle in den Vororten von Paris...

„Keine Ahnung! Ich meine, die Franzosen sind ja bekannt dafür, dass gerne mal Sache kaputtgemacht oder angezündet werden. Ich denke, es ist ein Phänomen der westlichen Gesellschaft allgemein. Uns in England hat es jetzt besonders hart getroffen, ich weiß zu wenig über die Situation in Frankreich oder Deutschland, um das beurteilen zu können.“

.rcn: England ist immer ein großes Thema in deinen Songs. Dein letztes Album heißt ja auch „England Keep My Bones“. Das scheint dich also sehr zu beschäftigen...

„Definitiv! Natürlich ist das nicht als nationalistisches Statement zu verstehen. Es stellt hoffentlich genauso viele Fragen, wie es Antworten gibt. Es gibt natürlich auch eine Menge Dinge in und über England zu erzählen, die mich sehr deprimieren. Die Ausschreitungen sind ein sehr gutes Beispiel dafür. Aber gleichzeitig liebe ich die englische Landschaft. Ich bin auf dem Land groß geworden und habe die größten Teile der Insel schon bereist. Das erfüllt mich sehr. Es gibt kaum Schöneres, als an einem sonnigen Nachmittag an der Südküste zu stehen. Das ist wirklich wundervoll!“

.rcn: Würdest du dich selbst als Patriot bezeichnen?

„Ich mag das Wort Patriot nicht, weil man das mit Sachen verbindet, die ich nicht gut finde. Ich glaube nicht, dass ich besser bin als andere, nur durch den Zufall, dass ich hier geboren wurde. Aber es gibt aber auch Sachen über England, die ich natürlich auch feiern kann.“

.rcn: Einige von den Songs auf deinem neuen Album sind sehr traurig. Du singst zum Beispiel vom Ertrinken im Ärmelkanal. Geht’s dir gut?

„Das habe ich mich auch gefragt. Aber ich schreibe Songs und Texte nicht in eine gewisse Richtung. Ich fange einfach an und lasse mich treiben. Und als das Album fertig war, habe ich festgestellt, dass da ein paar ernsthafte Gedanken über den Tod drauf sind. Ich kann dir nicht erklären, warum. Ich erfreue mich bester Gesundheit. Ich habe beim Songwriting einfach die Augen geschlossen, mir vorgenommen, gute Songs zu schreiben und ich denke, das hat funktioniert.“

.rcn: Du bist also nicht erschöpft oder depressiv, weil du zu viele Konzerte spielst? Du bist ja fast nonstop unterwegs...

„Ich liebe es auf Tour zu sein. Natürlich gibt es Tage, an denen man einfach nur nach Hause will. Tage, an denen man nicht viel Spaß hat. Aber diese Tage gibt es wohl in jedem Job. Es ist also nicht besonders einzigartig, wenn ich einen schlechten Tag habe. Aber eines meiner Themen auf dem neuen Album ist der Zwist zwischen Fernweh und Heimweh und dem Kampf zwischen den beiden Gefühlen. Ich habe keine Ahnung, wer gewinnt, aber daraus entstehen einfach gute Songs.“

.rcn: Gibt es irgendein Land, das dir besonders gut gefällt? Du warst ja zuletzt sogar in Polen unterwegs.

„Ja, und wir waren auch kürzlich das erste Mal in Kroatien, das war toll! Also ich will dir jetzt nicht unbedingt in den Arsch kriechen, aber ich und meine Band, wir lieben Deutschland! Die Konzerte in Deutschland sind jedes Mal wunderbar. Ich bin aber auch ein großer Fan von Amerika. Ich kann diesen europäischen Anti-Amerikanismus nicht verstehen. Die Leute waren höchstens mal in New York oder so und sagen: Amis sind fett und blöd! Mir ging es ja genauso, bevor ich dort auf Tour war. Aber jetzt habe ich in 38 von 50 Staaten gespielt und es ist eines der unglaublichsten, schönsten, verstörendsten und überraschendsten Länder der Erde. Für jede Aussage, die man von Amerika trifft, kann man auch genau das Gegenteil sagen und beides trifft zu. Ich überlege sogar ernsthaft, für ein paar Jahre dort zu leben.“

.rcn: Ich habe deine Show im Stattbahnhof in Schweinfurt gesehen. Du ziehst eine Menge Punkrock- und Hardcorepublikum an. Obwohl du eigentlich Folksongs spielst. Wie kommt das?

„Natürlich liegen im Punk und Hardcore meine Wurzeln. Keine Ahnung, warum das so ist, dass ich der Akustik-Typ in der Punk-Szene bin. Ich denke auch nicht viel darüber nach, wie ich bei wem warum ankomme. Einer meiner Freunde aus Amerika hat in einem Gespräch mal erwähnt, dass er mich kennt. Und sein Gegenüber hat gesagt: Frank Turner? Ist das nicht der Typ, dem tätowierte Leute zuhören, wenn sie Händchen halten wollen? Besser kann man mich nicht beschreiben, finde ich!“

.rcn: Viele Jungs aus Punkrockbands sind inzwischen auch mit der Akustik-Gitarre unterwegs. Chuck Ragan von Hot Water Music, Joey Cape von Lagwagon oder Tony Sly von No Use For A Name. Woher kommt dieser Trend?

„Als ich vor sechs Jahren angekündigt habe, dass ich meine Band verlasse und mit Akustik-Gitarre auf Tour gehe, wurde ich von meinen Freunden ausgelacht. Aber jetzt machen das viele Leute. Und irgendwie bin ich stolz drauf, dass mich damals viele als Idiot bezeichnet haben und ich ihnen das Gegenteil beweisen konnte. Es gibt eine positive und eine negative Antwort darauf, warum das jetzt so populär ist. Punkrock gibt es jetzt schon lange genug, dass die Leute die Ideen hinter Punkrock verstanden haben. Wenn du das erste Mal Jawbreaker hörst, blasen sie dich weg. Wenn du aber die hundert Bands hörst, die genau das Gleiche machen, wird es langweilig. Wenn du aber die gleiche Idee und die gleiche Leidenschaft mal anders präsentiert bekommst, erinnerst du dich vielleicht daran, warum du Punkrock anfangs so gut fandest. Und die negative Seite ist, dass natürlich jetzt viele auf den Zug aufspringen. Viele Leute sagen, wenn der nächste Punkrocker mit Akustik-Gitarre auf Tour geht, dann ist das nur eine kostengünstigere Art, Konzerte zu spielen.“

.rcn: Hast du jemals daran gedacht, deine alte Band Million Dead zu reaktivieren?

„Million Dead werden wohl nie mehr mit mir auftreten. Ich denke aber wirklich gerade konkret über ein Hardcore-Seitenprojekt nach. Ich würde es mal als Urlaub von dem bezeichnen, was ich gerade mache. Geplant ist ein Trio mit Gitarre, Schlagzeug und mir als Sänger. Und das alles sehr brutal im Stil von Converge oder Jesus Lizard. Einfach bösartiger Krach! Aber es gibt noch keinen Zeitplan dafür. Außerdem arbeite ich gerade an einer Art Tour-Tagebuch, aber das zieht sich gerade sehr in die Länge.“

.rcn: Du warst dieses Jahr auch mit Social Distortion unterwegs. Wie war das für dich?

„Das war phantastisch! Ich bin mit Social Distortion groß geworden. Am ersten Tag war ich furchtbar nervös und dachte mir: Hoffentlich sind es keine Arschlöcher! Und zum Glück kann ich sagen: Sie sind keine Arschlöcher, sondern furchtbar nett! Mike Ness ist ein Schatz. Er ist ein ganz süßer alter Mann. Jeden Tag hat er sich bei mir über britische TV-Shows erkundigt, die er super findet. Er ließ sich von mir immer den englischen Humor erklären. Von dieser Tour werde ich auf jeden Fall jedem Mädel erzählen, das ich beeindrucken will.“

.rcn: Vielen Dank für das Gespräch!

Wolfram Hanke