ENTER SHIKARI: INTERVIEW MIT FRONTMANN ROU REYNOLDS (JANUAR 2015)
Nachdem wir schon in unserer Dezember/Januar Ausgabe über
die vier Engländer berichtet haben, wollten wir den Jungs noch
einmal auf den Zahn fühlen. Grund dafür war unter anderen ihr
überragendes, neues Album „Mindsweep“ und der energiegeladene
Auftritt am 14. Januar diesen Jahres im Hirsch. Frontmann Rou
Reynolds gewährt uns Einblick in persönliche Erfahrungen, die
er über Jahre hinweg gesammelt hat und erklärt uns die
Hintergründe hinter der stetigen musikalischen Entwicklung der
Jungs.
.rcn: Als Journalist habe ich
glücklicherweise die Möglichkeit Alben schon Wochen oder Monate
vor dem eigentlichen Veröffentlichungsdatum zu hören. Eures
habe ich im November bekommen und seit dem hat die CD den CD
Player auch nicht mehr verlassen, weil es eben so ein
überragendes Album ist und man immer wieder Neues entdeckt.
Bist du oder seid ihr euch bewusst, dass ihr ein wirklich
großes Album geschrieben habt? Habt ihr sonst auch ähnliches
Feedback?
Rou: Vielen lieben Dank für diese überaus
netten Worte! Also, ich habe schon viele Kommentare gesehen,
die sagen, dass es ein überragendes Album ist und wir hatten
bisher auch wirkliche großartige Rezensionen. Allerdings gibt
es auch Personen, welchen das Album so überhaupt nicht gefällt,
aber das war vorauszusehen. Kurt Vonnegut hat mal etwas gesagt,
was ich gerne zitieren möchte: „Öffne nicht das Fenster, um die
ganze Welt zu lieben, weil ansonsten wirst du eine riesige
Sauerei auf dem Flur hinterlassen“. Das habe ich schon immer
gemocht. Es kann so interpretiert werden, dass das, was man
macht, manchen Menschen wirklich die Welt bedeutet, besser ist,
als meine Kunst zu opfern, um flächendeckenden Erfolg zu
haben.
.rcn: Jetzt war es endlich so weit und eure
Platte wurde offiziell veröffentlicht. Wie waren die Kritiken
von den Medien und den Fans bisher?
Rou: Bisher ist das Feedback hauptsächlich
positiv ausgefallen und wir haben auch Bewertungen mit der
Höchstpunktzahl bekommen, was uns wirklich sehr viel bedeutet.
Auch wenn es noch zu früh ist das zu sagen, aber es waren auch
so viele Leute dabei, die sagten, dass es unser bisher bestes
Album ist, was wir auch denken.
Enter Shikari live 14.01.2015 Hirsch Nürnberg, Foto: Jan
Oulehla
.rcn: In Teil eins unseres Interviews im
November habt ihr gesagt, dass es sicherlich Leute geben wird,
die das Album hassen werden. Ist das wahr geworden?
Rou: Es kommt immer darauf an, wo man schaut.
Am Besten liest man sich mal die Kommentare unter einem unserer
YouTube-Videos durch. Da wirst du viele User finden, die Dinge
sagen, wie „bloß Lärm“, „sind jetzt irgendwie Pop geworden“
oder „das ist doch ein heilloses Durcheinander“ usw. Ein paar
Leute erwarten immer noch von uns, aus welchen Gründen auch
immer, dass wir ein zweites „Take To The Skies“ oder „Common
Dreds“ schrieben. Sie haben sich nicht mit unserer
fortlaufenden musikalischen Entwicklung abgefunden und der
schier endloses Anzahl an Genres, in welchen wir uns wohl
fühlen. Ich weiß gar nicht, warum sich diese Leute die Mühe
machen uns zuzuhören oder unsere Videos zu kommentieren.
.rcn: Zuerst muss ich euch sagen, dass ihr im
Hirsch, Nürnberg einfach grandios ward! Aber ich hab mich
gewundert, warum ihr nicht mehr Songs von „Mindsweep“ gespielt
habt. Was ist der Grund?
Rou: Wir sind uns bewusst, dass wir nicht oft
Sets spielen, die nur zu uns passen. Ich meine, wir hätten das
neue Album liebend gerne von Anfang bis Ende durchgespielt,
aber wenn man auf einen Auftritt geht als Zuschauer und man
nicht die Zeit hatte, sich mit dem neuen Material vertraut zu
machen, dann möchte man etwas von dem alten Zeug hören, das man
kennt. Wir wollen, dass man bei unseren Gigs Spaß hat und sich
nicht wie in einer Vorführung fühlt.
.rcn: Im November hast du mir erzählt, dass
es schwierig werden wird, das Material auf Grund der komplexen
Arrangements auf die Bühne zu bringen,. Bist du selbst mit
eurem Auftreten zufrieden?
Rou: Ich bin mir sicher, dass wir uns mit der
Zeit verbessern werden. Wir hatten nicht sehr viel Zeit zu
proben, aber wir haben nächste Woche Zeit auf Trab zu kommen,
bevor wir im Februar viel mehr von unserem Material spielen
werden.
.rcn: In eurem Song “Bank of England” singt
ihr darüber, wie ihr eine Bank in die Luft jagt und dass das
Papier tagelang brennt. Wie soll der Hörer die Lyrics
interpretieren?
Rou: Das Lied ist eine weitere Kritik an den
Kapitalismus. Es wurde von den Gründervätern des Kapitalismus
beeinflusst und der Tatsache, dass sie all die Schwierigkeiten
und Fehler, die dadurch produziert wurden, nicht voraussehen
konnten. Die Bridge in dem Song zitiert Adam Smith’s Therorie
(einem Mann, dem nachgesagt wird, der Vater der modernen
Wirtschaft zu sein) von einer „unsichtbaren Hand“, welche er
als Kraft bezeichnet, die die Gesellschaft zum Allgemeinwohl
führt, obwohl die Kernaussage des Kapitalismus nicht anderes
ist, als Selbstinteresse und Maximierung des eigenen Besitzes.
Denn wir leben in einer Welt, in der ein Siebtel der
Bevölkerung verhungert oder ernsthaft ums Überleben kämpft,
wohingegen ein Prozent rund 50 Prozent des Geldes der Welt inne
hat. Daraus lässt sich schließen, dass es keine „unsichtbare
Hand“ gibt, die die Gesellschaft zum Allgemeinwohl führt.
Und während Zeit mit der Verteidigung des Kapitalismus als
alles dominierende Wirtschaftsform verschwendet wird, gerät die
Philosophie immer mehr in den Hintergrund. Das krasse, aber
offensichtlich passende Bild einer brennenden Bank ist die
allgegenwärtige Warnung vor dem, was wir zu erwarten haben,
wenn nicht mit sofortiger Wirkung ein radikales Umdenken über
die Art und Weise, wie unsere Welt im Moment strukturiert ist,
implementiert wird. Um noch ein Zitat von Martin Luther King
nachzuschießen: „Protest ist die Sprache der Ungehörten“.
.rcn: Dem habe ich nichts mehr hinzuzufügen.
Um noch einmal zu eurem Gig zurückzukommen. Du hast dir deinen
Weg durchs Publikum gebahnt und hast daraufhin weiterhin
gesungen und Gitarre gespielt. Es hat so ausgesehen, als ob du
in einer komplett anderen Welt warst. Wie ist das für die auf
der Bühne. Spielst du eine bestimmte Rolle oder bist du in
deiner eigenen Welt?
Rou: Musik live zu spielen, gibt dir die
Möglichkeit im Moment selbst zu leben. Es kann einen sehr
meditativen Charakter haben, wenn man ihn zulässt, auch wenn
das jetzt extrem unglaubwürdig klingt, weil ich während des
Auftritts eher wie ein geköpftes Huhn herumrenne. Man fühlt die
Musik von einem Beat zum anderen; man ist wirklich voll und
ganz damit involviert, was man gerade tut. Also kann ich die
gestellte Frage verneinen, weil ich nicht denke, dass ich eine
Rolle spiele. Ich fühl mich tatsächlich ziemlich lebendig und
mit einem Kopf, frei von Ängsten und Zwängen, von Hoffnungen
und Träumen.
Enter Shikari live 14.01.2015 Hirsch Nürnberg, Foto: Jan
Oulehla
.rcn: Vor zwanzig Jahren gab es Werkzeuge wie
die Sozialen Medien nicht. Heute ist man in der Lage Promotion
und Interaktion mit den Fans ganz alleine zu machen. Hast du
Zeit dafür oder ist es etwas, dass du nicht so gerne
machst?
Rou: Ja, ich versuche schon Zeit dafür zu
finden. Wir haben als Punk Band angefangen und den ganzen DIY
Zirkel durchlaufen. Wir haben nach dem Gig versucht mit jedem
Einzelnen im Club zu reden. Ich will dieses enge Verhältnis
nicht komplett verlieren und die Sozialen Medien helfen das
schon immens!
.rcn: Wenn man eure Diskographie ansieht,
bemerkt man, dass ihr mittlerweile schon viele Alben
aufgenommen habt. Vergleicht man die alten und neuen
Veröffentlichungen, so bemerkt man natürlich Unterschiede, aber
man merkt trotzdem, dass es Enter Shikari ist. Nicht viele
Bands haben die Fähigkeit und den Mut sich ständig selbst neu
zu erfinden. Sind deiner Meinung nach große Unterschiede
zwischen den Platten?
Rou: Wir haben das große Glück, dass wir
immer die selben vier Mitglieder hatten in unserer Karriere und
deswegen würde ich sagen, dass sich auch das erste Album nach
Enter Shikari anfühlt. Die sehr frühen EP’s (also vor „Take To
The Skies“) eher nicht so. Ich bin der Meinung, dass wir immer
noch auf der Suche nach unserem Sound sind und dann eben weiter
sehen. Wir waren immer nur darauf aus dynamische und
leidenschaftliche Musik zu machen und das beschreibt so
ziemlich jede Ära der Band.
.rcn: Abschließend eine Frage zu eurem
Support-Act Hacktivist. Denkst du, dass der Rap-Crossover der
90er wieder kommt?
Rou: Nun, ich würde sagen, dass ihr Sound
schon mehr von diesem frischen Vibe hat, welchen die modernen
Bands jetzt haben. Außerdem interessante Rhythmen und
leidenschaftliche Refrains.
Abschließend kann durchaus gesagt werden, dass Enter Shikari,
auch was die textlichen und denkerischen Hintergründe
anbelangt, vollkommen zu der Musik passen, die am Ende aus den
Lautsprechern knallt. Wir haben einen wohlüberlegten und
wortgewandten Rou erlebt, der seine Songs zwar politisch
kritisch infiziert, das allerdings nicht wie beispielsweise
„Rise Against“ offen darlegt, sondern geschickt mit einem
Augenzwinkern maskiert.
Enter Shikari live 14.01.2015 Hirsch Nürnberg, Foto: Jan
Oulehla